Mit Märchen durch das ganze Jahr. Alte Märchen neu erzählt.

0
958

Auszug aus dem Vorwort:

Wenn ich mich für diese Veranstaltungen vorbereite und ein neues Märchen ‘lerne‘, oder ein bereits erlerntes Märchen ‘auffrische‘, dann lebt es eine Weile in mir, und zwar so lange, bis es zu meinem ganz persönlichen Märchenschatz geworden ist. Und dabei verändert es sich, immer und immer wieder. Deshalb trägt dieses Märchenbuch den Untertitel:
„Alte Märchen neu erzählt“.
Und deshalb habe ich auch bei einigen Märchen die allgemein bekannte  Überschrift etwas abgeändert. Ich bin der Meinung, dass das legitim ist.

Wurden doch in früheren Zeiten an den langen dunklen Winterabenden in Küchen und Stuben, wenn das Feuer im Ofen prasselte und eine wohlige Wärme verbreitete, die Märchen von Mund zu Mund weiter gegeben. Dabei haben die Erzähler/innen mit Sicherheit ihre ganz persönlichen Anliegen und Wertvorstellungen mit einfließen lassen.

Erst durch die schriftliche Erfassung der Märchen erhielten sie ihre festgelegte Form, wurden uns aber dadurch – Gott sei Dank – erhalten.
Im 19.Jahrhundert gab es in ganz Europa Märchensammler, die sich die Volksmärchen erzählen ließen und aufschrieben.
Und so blieb es nicht aus, dass in diesen Märchensammlungen die Weltanschauungen und Moralvorstellungen der damaligen Zeit und des jeweiligen Landes mit eingeflossen sind, auch bei den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm.

Die Lebendigkeit der Märchen begeistert mich. Weil sie so lebendig sind, waren sie schon immer aktuell und sind es auch noch heute.

Leseprobe zu dem Märchen:
Der Hase im Mond – Ostern

In diesem Jahr war der Winter besonders kalt und frostig und er dauerte lange, sehr lange. Mensch und Tier warteten sehnsüchtig auf den Frühling
Endlich war es so weit.
Die Sonne gewann an Kraft, die Tage wurden länger und die Nächte waren nicht mehr so kalt.
Der Frühling zog ins Land.

 

Es war die Zeit des Vollmondes.
Da beschlossen die Hasen eines abends, ihr alljährliches Frühlingsfest zu feiern.
Der warme Südwind wehte, die Erde duftete frisch und würzig, und überall sah man frisches Gras und bunte Blumen hervorsprießen:
gelb – blau – rot – lila –

 

An diesem wunderschönen lauen Frühlingsabend kamen die Hasen aus allen Himmelsrichtungen auf die Waldwiese gehoppelt.

Einige holten frisches Wasser von der Quelle.

Der alte Hasengroßvater kam und setzte sich mitten auf die Wiese.
Im Nu versammelten sich alle Hasenkinder um ihn, denn niemand konnte so schöne Geschichten erzählen wie er. Ganz still saßen und lagen die kleinen Hasen um ihn herum und spitzten ihre Ohren, damit sie auch jedes Wort genau hören konnten.
Plötzlich hielt der alte Hase inne.
Er richtete sich auf, streckte die Ohren hoch in den Himmel und flüsterte:
„Pst, still, ich höre himmlische Musik.“
Sofort richteten sich die kleinen Hasen auf und streckten ihre Ohren hoch in den Himmel, so wie der Großvater –
und wahrhaftig: Auch sie konnten himmlische Musik hören.

 

 

Welch eine Ruhe!
Welch eine Andacht!
Welch ein Frieden!

Plötzlich wurde die heilige Stille jäh zerrissen, zerrissen von Hundegebell und Gewehrschüssen.

Huiiiiiiiii stieben die Tiere davon.
Ein jedes suchte Schutz im Wald und versteckte sich im Unterholz.
Alle schafften es bis auf eines.
Das war ein weißen weißer Hase. Er war so sehr in die himmlische Musik versunken gewesen, dass er nicht schnell genug los gerannt war.
Laut kläffend verfolgten die Hunde den Hasen.
Er schlug einen Haken nach dem anderen, dennoch kamen ihm die Hunde näher und näher.

Das alles beobachtete ein grauer Hase aus seinem sicheren Versteck.
Er sah, in welcher Not sein Kamerad war und dass er immer schwächer wurde. Gleich würden die Hund ihn zu fassen kriegen.
Kurz entschlossen sprang der graue Hase aus seinem Versteck so nah an die Hunde heran, dass diese den Weißen laufen ließen und nun den Grauen verfolgten.

Der weiße Hase erreichte den Wald und versteckte sich im Dickicht. Jetzt beobachtete er mit klopfendem Herzen, was mit seinem Retter geschah.
Die Hunde hetzten ihm nach, verzweifelt schlug er seine Haken …

Da erklang der Pfiff des Jägers.
Augenblicklich hielten die Hunde inne. Dann liefen sie laut kläffend zu ihrem Herren.
Dieser sprach: „Nichts mit Hasenbraten heute. Kommt, wir gehen nach Hause.“

 

Jetzt sprang der graue Hase auch ins Dickicht und landete geradewegs neben dem Weißen. Mit klopfenden Herzen saßen die beiden da und lauschten auf das Gebell der Hunde. Es wurde leiser und leiser. Endlich war es wieder ruhig und still im Wald und auf der Lichtung.
Da sprach der weiße Hase: „Du hast mir das Leben gerettet. Ich danke dir!“
„Das ist doch selbstverständlich. Das hätte jeder andere auch getan, denn es ist Hasenart“, antwortete der Lebensretter und fuhr fort: „Komm, lass uns wieder auf die Wiese gehen. Sieh, viele sind schon dort und feiern weiter.“

„Nein“, sagte der weiße Hase, „ich möchte nicht mehr feiern. Ich möchte dorthin gehen, wo man immer himmlische Musik hören kann, von morgens bis abends.“
„Und wo soll das sein?“ wollte der graue Hase wissen.
„Hoch oben in den Bergen, dort, wo sich Himmel und Erde berühren.“                 Der weiße Hase zeigte mit seiner Pfote zu den Berggipfeln.
„Und da willst du hin gehen?“ fragte der Graue ungläubig.
„Ja, das will ich.“
Er dachte eine Weile nach und fragte dann:
„Darf ich dich begleiten?“
„Gerne, mein lieber Lebensretter,“ war die Antwort.

 

Also machten sich die beiden Hasen auf den Weg in die Berge. Der Mond schien hell, so dass sie den Weg gut erkennen konnten. Er führte an einem Bächlein entlang, bergauf, höher und immer höher.
Die ganze Nacht hindurch wanderten sie. Als der Morgen graute, verblasste der Mond. Im Osten färbte sich der Himmel gelb – orange – rot –
Dann sah man am Horizont einen kleinen roten Streifen, der wurde breiter und größer und endlich stand die Sonne wie an glutroter Ball am Himmel.
Was für ein großartiges Schauspiel!
Die Hasen saßen ganz still da und bestaunten das Wunder des neuen Tages …

 

Nun waren sie schon so hoch in den Bergen, dass keine Bäume mehr wuchsen, nur niedriges Gestrüpp, Bergkiefern und Latschen.
Etwas weiter oben sah man die grauen Felsen.
Die Hasen hoppelten weiter am Bachlauf entlang und erreichten schon bald die Quelle. Sie entsprang auf einer herrlich grünen Almwiese.
Das Gras war frisch und saftig und es duftete nach Kräutern.

Hm — welch würziger Geruch!

Sanft wehte der kühle Morgenwind.

Nun sprach der graue Hase:
„Hier wollen wir bleiben. Hier gibt es gutes Futter. Höher oben sehe ich nur Felsen. Da wächst nichts mehr. Da müssten wir verhungern.“
Doch der weiße Hase antwortete:
„Nein, ich muss auf den Berggipfel, dorthin, wo sich Himmel und Erde berühren. Hier auf dieser Wiese kann ich die himmlische Musik nicht so gut hören wie dort oben. Ich gehe hinauf und suche mir ganz nah am Himmel eine Höhle.“

 

Der graue Hase überlegte eine Weile, dann antwortete er:
„Ich bleibe hier! Doch ich werde dich begleiten, damit ich weiß, wo du wohnst.               Dann werde ich hierher zurück kehren. Ich werde dich von Zeit zu Zeit besuchen und dir frisches Gras und saftige Kräuter bringen, damit du nicht verhungerst.“

Da bedankte sich der weiße Hase bei seinem treuen Begleiter.

 

So setzten die beiden ihren Weg fort. Sie hoppelten höher und höher.
Schließlich fanden sie ganz nah am Gipfel eine kleine Höhle.
Sie legten sich vor den Höhleneingang und lauschten.
Wirklich, sie konnten wieder diese wundervolle himmlische Musik hören,     nur noch viel schöner und klarer, als im Tal.

„Hier bleibe ich!“ Der weiße Hase war sehr zufrieden.

Die beiden Freunde verabschiedeten sich voneinander.
Dann hoppelte der graue Hase zurück zu der fruchtbaren Almwiese.

 

Die Tage und Wochen vergingen.
Wie versprochen brachte der treue Lebensretter von Zeit zu Zeit seinem Kameraden frische Kräuter und saftiges Gras.
Und der weiße Hase konnte sich gar nicht satt hören an den himmlischen Klängen. Stundenlang lag er vor seiner Höhle und lauschte.
Er war so glücklich wie noch nie in seinem Leben.

 

 

Und wie der weiße Hase in den Mond gelangte, das soll an dieser Stelle nicht verraten werden.

 

Texte: Brigitte Hagen – Bilder: Bärbel Luka
Erhältlich beim Adlerstein Verlag.

Auszug aus dem Nachwort für Erwachsene

Herkunft und Gedanken zu dem Märchen:
Der Hase im Mond

Schon immer wollten Menschen die Welt um sich herum verstehen.
Als sie noch nicht die technischen Möglichkeiten hatten, sie wissenschaftlich zu erforschen, erdachten sie Geschichten.
Sie versuchten mit diesen sog. „Sagen“ Zusammenhänge herzustellen, um das „Unfassbare fassbar“ zu machen, um das Unerklärliche besser verstehen zu können. Auf diese Weise fühlten sie sich den Naturphänomenen weniger hilflos ausgeliefert.

Der Mond war schon immer geheimnisumwoben.

Wenn sein silbernes Licht – vor allem in Vollmondnächten – sich auf die Erde ergießt, erscheinen die Gestalten von Mensch, Tier, Baum und Strauch wie verzaubert, aber auch etwas gespensterhaft. Dies war in früheren Zeiten die Stunde, in der die Menschen allerlei unwirkliche, gespenstische und gruselige Geschichten erfanden – und vielleicht auch erlebten.

Heute wissen wir, dass die weißen Flecken auf der Mondoberfläche von den Mondkratern kommen und von der unterschiedlichen Reflexion des Sonnenlichtes.

Doch damals deuteten die Menschen in den Ländern der Welt die Mondflecken ganz anders und sehr unterschiedlich:
In Südafrika sah man in ihnen eine Frau, die Brennholz trägt, in Westafrika ein Krokodil und in Europa einen Mann, mit zwei Wassereimern.

In Asien glaubten die Menschen, einen weißen Hasen im Mond zu sehen …
I